Ein Gefangener lässt sich im Gefängniskrankenhaus die Mandeln herausnehmen. Kurze Zeit später muss der Blinddarm entfernt werden. Als dann auch noch das Ziehen der Weisheitszähne ansteht, taucht plötzlich der Gefängnisdirektor vor dem Bett des Häftlings auf: „Schluss jetzt! Wir haben Sie durchschaut“, sagt er streng, „Sie wollen stückweise ausbrechen.“
Fühlt sich die Situation heute nicht so an wie ein stückweises Ausbrechen aus dem Lockdown? Endlich frei sein von all den Beschränkungen, nicht unter dem Druck der Regeln der Abgrenzung zu stehen! Aber es geht nur stückweise, ansatzweise, weil die Gefahr eines Rückfalls groß ist. „Ich will ausbrechen, frei sein!“ Das ist ein berechtigtes Anliegen. Aber da kann man natürlich über das Ziel hinausschießen und gebotene Vorsichtsmaßnahmen vergessen. Von unfreiwilligem Abschluss zur ersehnten Öffnung: Dies birgt Gefahren in sich.
Die Apostel beim ersten Pfingstfest: War es da nicht in manchem gleich, aber doch in vielem verschieden? Fünfzig Tage hatten sie sich weggeschlossen, sie hatten sich zurückgezogen aus Angst. Nun drängen sie heraus aus den Mauern, in die Öffentlichkeit. Sie werden angetrieben vom Heiligen Geist, von diesem Geist der Freiheit und des Mutes, sie lassen ihre Angst zurück: kein stückweises Ausbrechen, sondern ein kraftvoller Aufbruch. Ein großer Wandel ist vor sich gegangen. Aber war nicht die Zeit des Rückzuges eine notwendige Vorbereitung auf diesen Aufbruch? Beim Philosophen Friedrich Nietzsche heißt es: „Wer einst den Blitz zu zünden hat, muss lange Wolke sein.“
Die Apostel haben offensichtlich diese Zeit des Rückzugs genützt, um ihre Kräfte zu sammeln, um diese wiederzugewinnen, in der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen in der Begegnung mit dem Heiligen Geist. Mit diesem Geist im Rücken und vor sich gehen sie hinaus, nicht nach und nach, sondern in einem kraftvollen Neuanfang. Der Rückzug aber war eine Voraussetzung für die neue Freiheit, die sie nun hinausruft.
Wir müssen uns die Frage stellen: Haben wir die Zeit des aufgezwungenen Rückzugs genützt, um nicht nur so nach und nach zur alten Normalität zurückzukehren, sondern auch die Grundlage für eine geistvoll erneuerte Normalität zu schaffen, in die wir dann ganz zurückkehren können? Pfingsten ist ein Anlass, nicht nur zur alten Normalität zurückzukehren, sondern die Voraussetzungen einer dem Menschen und allen Menschen dienenden neuen Gesellschaft zu gestalten. Dies geht im Blick auf den, der uns über uns hinausführt.