Ein Student schrieb nach Hause: „Ich fühle mich elend bei dem Gedanken, dass ich Euch um Geld bitten muss. Ich schäme mich, aber ich brauche einen Hunderter. Euer Sohn Michael. PS: Ich rannte hinter dem Postboten her, der diesen Brief mitnahm. Ich wollte den Brief zurück, ich betete, dass ich ihn irgendwie zurückbekäme, aber es war zu spät.“
Einige Tage bekam er von seinem Vater einen Brief. Darin war zu lesen: „Deine Gebete sind erhört worden, Dein Brief ist nicht angekommen! Dein Vater!“
Wie doch die beiden, Sohn wie Vater, sich verbiegen und etwas offensichtlich Falsches vortäuschen, um das zu erreichen, was sie wollen, der Sohn, um Geld zu bekommen, der Vater, um nicht zahlen zu müssen! Die wirkliche Absicht wird hinter zum Greifen falschen Behauptungen versteckt. Das mag Taktik sein, ist aber das Gegenteil von Liebe und Barmherzigkeit. Liebe nimmt die Dinge, wie sie sind. „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ So heißt es im Gedicht „Was es ist“ von Erich Fried. Im Gegensatz zu solch nüchterner Sicht weist das Sprichwort „Liebe macht blind“ darauf hin, dass im Namen von Liebe und Barmherzigkeit oft Fehler beim anderen verdeckt werden. Was auch nicht immer stimmt: Oft lässt Liebe mehr sehen, als überhaupt da ist. Das ist aber falsche Liebe. Liebe und Barmherzigkeit bauen nicht auf Illusionen, nicht auf Abwehr der Wirklichkeit auf, sondern auf der Anerkenntnis der Menschen und der Situationen, wie sie sind.
Der verlorene Sohn im Evangelium vom Sonntag wird sich bewusst, dass er mit seinem Weggehen falsch gehandelt hat, der Vater verschließt seine Augen nicht vor der Abwendung des Sohnes. Jeder muss der Wirklichkeit in die Augen schauen. Das Verschließen der Augen vor der Wirklichkeit führt nämlich nicht zum Besseren. Der Vater leidet darunter, dass der Sohn verloren gegangen ist, er lässt sich aber von dieser Ausgangslage nicht entmutigen.
Der Sohn muss eigentlich davon ausgehen, dass er durch sein Handeln dem Vater gegenüber Strafe verdient hat und der Vater ihn abweisen wird. Aber beide folgen nicht dem, was die Erfahrung sagt: „Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung.“ So heißt es an einer anderen Stelle des Gedichtes von Erich Fried. Im Blick auf die Wirklichkeit können aber Schritte einer Abkehr von dem, was aus der Wirklichkeit folgen sollte, gesetzt werden. Der Sohn findet beim Vater leibende Aufnahme.
Barmherzigkeit eröffnet damit einen neuen Blick auf die Wirklichkeit, sie lässt neues Leben zu. „Es ist das Ende der Welt!“ So sagt die Raupe. „Es ist erst der Anfang!“ So die Sicht des Schmetterlings, der aus der Raupe schlüpft.
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