Liebe Diözesanfamilie! Schwestern und Brüder im Herrn!
Wir alle erleben viele Umbrüche in Arbeit und Wirtschaft, in Politik und Gesellschaft insgesamt, auch in der Kirche. Und wir verstehen all diese Umbrüche nur wenig. Der Ballast an Fragen ist größer als jeder oberflächliche Versuch einer vorschnellen Antwort. Es scheint, die Zeit ist reif für eine neue Vermessung.
Viele Aggressionen, Falschheit und Unüberlegtes sind zu oft im Spiel. „Wann wird es endlich wieder so wie früher?“, könnte eine der verführerischen Fragen lauten. Wer stellt die richtigen Fragen und wer hält die ganze Fragwürdigkeit aus? Die Zeit ist anscheinend aus den Fugen - auch diese schmerzliche Erfahrung gehört zu den alten und neuen Wunden unserer Menschheit. Gegen die Zeit anzukämpfen, oder sich der Zeit anzupassen, ist kein Heilskonzept. Die billige Rezeptur der Beliebig- keiten und der Verheißungen gleicht eher einer Selbstüberschätzung des Menschen. Durch die Pandemie, die wir bereits überwunden zu haben meinten, wurden viele bisherige Konzepte von Normalität hinterfragt, Gesellschaften gespalten, Familien und Freundschaften über das Maß hinaus belastet. Impfgegner und Impfbefürworter, Kritiker und Ver- teidiger der staatlichen Verordnungen stehen einander weiterhin unversöhnlich gegenüber.
Es fehlen arbeitende Menschen und Arbeitsplätze. Es fehlen Pflegekräfte und Menschen mit sozialer Verantwortung. Es fehlen anscheinend auch Politiker, die zuerst das Wohl des Ganzen sehen, bevor sie an ihre eigenen Umfragewerte denken. Es fehlen Ärzte, Frauen und Männer im Krankendienst und auch Priester. Die Sorge um die Ressourcen unserer Schöpfung und um die Zukunft unserer Erde wird noch immer verdrängt. Das Reden über Gott, den Anfang der Schöpfung und des Geschöpfes, ist zahnlos und kärglich geworden. Die Lebensbedingungen sind besser geworden, die Wissenschaft entwickelt sich oft atemberaubend, und doch ist der Fortschrittsoptimismus vergangener Jahrzehnte weitgehend geschwunden.
Alle diese Erfahrungen, und viele andere mehr, dürfen uns nicht in Zweifel und Schrecken, in Angst und Depression versinken lassen. Aber sie machen uns klar: Auch die Welt ist aus den Fugen. Wir leben bereits in einer neuen Welt und fragen: Was darf uns zugemutet werden und was können und dürfen wir tun?
In meinem Hirtenwort zum Martinsfest 2020 habe ich im Blick auf unseren Landes- und Diözesanpatron, den heiligen Martin, von drei großen Grundhaltungen gesprochen:
Von der Spiritualität, als Weg zu Gott und zur Gemeinschaft des Glaubens mit der Kirche.
Von der Synodalität, als Befähigung zum Hören und zum Lernen, zur Bereitschaft miteinander, und nicht gegeneinander zu arbeiten, und als Offenheit für Erneuerungen und Veränderungen. Inzwischen ist der synodale Weg zu einem zukunftsweisenden Weg geworden, zu dem uns alle, auch unsere kleine und junge Diözese, Papst Franziskus einlädt. Gehen wir diesen Weg gemeinsam, aber auch in großer Ehrfurcht.
Und ich habe die Solidarität genannt.
Gerade der heilige Martin ermutigt uns alle, ganz gleich, wer wir sind und welche Aufgaben uns zugeteilt werden, über uns hinaus zu wachsen, indem wir uns den Menschen zuwenden, für die Menschen da sind.
An diesem Martinsfest lade ich alle ein, drei Grundhaltungen wieder zu entdecken – dafür müssen wir nicht besonders fromm sein.
1. Dankbarkeit und Demut
Niemand von uns kann und muss diese Welt neu erfinden. Uns allen wurde Vieles geschenkt und Großes anvertraut. Das Erbe, das wir in unserem Land und in der Kirche des Burgenlandes verwalten und gestalten dürfen, ist vielfältig und reich. Lange Zeit waren wir ausgegrenzt, wirklich arm, noch bis in die jüngste Zeit waren wir Grenzgänger am tödlichen Eisernen Vorhang. Die Arbeit war kärglich, so wie das Leben auch. Familien mussten die Woche über meist getrennt leben und zu viele
sind abgewandert, in der Hoffnung auf eine lebenswertere Zukunft. Heute ist, Gott sei Dank, vieles anders.
Die „Geiz ist geil“ - Gesellschaft, die „Hyperkonsum- und Spaßgesellschaft“, der Egozentrismus sind bereits gestorben, auch wenn sie noch manchmal aufflackern. Besonders junge Menschen zeigen uns schon einen neuen Weg: nicht unbedingt mehr Geld, mehr Arbeit, dafür aber mehr Zeit füreinander.
Ich bitte Sie um Demut und Dankbarkeit: sie sollten Hauptwörter unseres Lebens sein. Die vielen Menschen, die gerade in den letzten Monaten bis ans Äußerste gegangen sind, machen mich demütig, ihnen allen danke ich von Herzen. Ich persönlich danke für das Gebet und die Anteilnahme, die mich in meiner Corona-Krankheit aufgerichtet haben.
Wir danken allen Menschen, die vor uns gelebt haben, die wir niemals vergessen dürfen, auch wenn sie vertrieben, verleugnet oder hingerichtet wurden. Auch diese Wunden gehören zu uns und zu unserer Geschichte. Wir haben aber auch Großes vorzuweisen, Solidarität gelebt und christliche Nächstenliebe in der jeweiligen Zeit konkret gemacht. Für all das möchte ich danken! Demut und Dankbarkeit waren auch Grundhaltungen des heiligen Martin.
2. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit
Wir sind keine Insel der Seligen und keine Ansammlung der Selbst- zufriedenen. Uns ist vieles anvertraut: dieses schöne und reiche Land, eine aufregende Geschichte, Sprachen und Kulturen, die Vielfalt der Volksgruppen, Talente und Begabungen, auch das Eingebettet-Sein in eine große christliche Glaubenstradition mit der gewachsenen Verschiedenheit und Vielfalt der Kirchen. Für Manches, was uns geschenkt ist, beneiden uns andere, und nach Manchem, was andere schon haben, sollten wir nicht gieren.
Die Aufmerksamkeit füreinander lässt uns aber immer über den Tellerrand der Alltäglichkeiten blicken. Vor einigen Tagen konnte eine Pilgergruppe aus dem Burgenland nach Rom aufbrechen, die Gräber der Apostel besuchen, dem Papst begegnen, den österreichischen National- feiertag mit einem ökumenischen Gebet in unserer Botschaft gestalten und in der Kirche der Anima mit der deutschsprachigen Gemeinde die Sonntagsmesse feiern. Der neue Altar wurde von Diözese und Land gestiftet.
Das 100-jährige Burgenland und die 60 Jahre alte Diözese konnten auch damit ein Zeichen der Aufmerksamkeit setzen: Unsere Welt ist größer, als wir manchmal wahrhaben wollen und wir tragen füreinander eine große Verantwortung.
Achtsamkeit heißt auch, uferlose Freiheitsansprüche einzugrenzen und aufeinander zuzugehen. Deshalb bitte ich Sie, im Blick auf die Achtsamkeit füreinander und im Blick auf die Freiheit, die wir einander schulden: Lassen Sie sich bitte impfen! Ich sage das, weil ich erleben und erfahren musste, wovon ich rede.
Der heilige Martin war ein besonders achtsamer und aufmerksamer Zeitgenosse, und deshalb ein Wegweiser über seine Zeit hinaus.
3. Hoffnung und Zuversicht
Nachdenkliche reden davon, dass wir heute eine stille Revolution erleben, die weitaus größer sei als die industrielle Revolution. Ob es die digitale Revolution ist, können wir vielleicht noch gar nicht sagen.
Ich wünschte, es wäre eine Revolution der Hoffnung und der Zuversicht. Wir dürfen nicht alles, was wir können! Wie werden Menschen morgen sterben? Und in welche Zukunft werden unsere Kinder hineingeboren werden? Wird es uns gelingen, aufeinander zu hören, einander zu begegnen, das Gute vom Bösen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden und miteinander einen Weg zu gehen, der in eine gute, menschliche und lebenswerte Zukunft führt?
Ich möchte Sie alle ermutigen, ich möchte Ihnen Hoffnung schenken und Zuversicht wecken. Nicht, weil ich ein blinder Optimist bin, sondern ein Realist, dem Gott nicht abhandengekommen ist. Mit Gott zu rechnen, führt nicht zum Bankrott.
Auf ihn zu vertrauen, an ihn zu glauben, macht uns Menschen groß, vielleicht viel größer, als wir von uns denken. Gehen wir mit Dankbarkeit und Demut, mit Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, mit Hoffnung und Zuversicht auch weiterhin unseren gemeinsamen Weg in die Zukunft! Das schulden wir unserem Landes- und Diözesanpatron, dem heiligen Martin, den Menschen vor uns und mit uns und jenen, die nach uns Kirche, Land und Gesellschaft gestalten werden.
Es grüßt und segnet Euch, Euer
+ Ägidius
Bischof von Eisenstadt