Liebe Diözesanfamilie!
Schwestern und Brüder im Herrn!
Das Fest des heiligen Martin berührt uns alle. Dieser europäische Heilige weist über seine Zeit hinaus, er bleibt ein Imperativ für Gesellschaft und Kirche, ein Ermutiger für unsere gemeinsame Zukunft. Heute gibt es viel Unsicherheit, Armut und Angst. Es ist kalt geworden, vieles macht nachdenklich. Es wäre nicht gut, nach schnellen Antworten zu suchen, zu vertrösten, Lösungen anzubieten, die es nicht gibt, Resignation wäre das Schlechteste.
„Wir müssen Experten der Begegnung werden“, sagt Papst Franziskus in seiner Predigt zur Eröffnung des Synodalen Weges der Kirche vor einem Jahr im Blick auf die Bischofssynode 2023. Was Begegnung ist, hat der heilige Martin vorgelebt im bleibenden Bild der Begegnung mit dem Bettler, dem Frierenden vor den Toren von Amiens. Jede Begegnung erfordert Offenheit, Mut und Bereitschaft, sich von der Geschichte des anderen herausfordern zu lassen. Begegnung auf Distanz ist nicht möglich.
Wie sind unsere Begegnungen?
Ich lade Sie ein, mit mir gemeinsam drei Begegnungen zu wagen.
Die Welt ist komplex, herausfordernd, für viele auch überfordernd geworden. Das Leben ist oft belastend und beschwerlich, auch für junge Menschen. Wird es eine tragfähige Zukunft geben? Alte Menschen, denen Armut und Entbehrung nicht fremd sind, die Krieg erleben mussten, fragen sich, wie es weitergehen wird. Wer wird mich pflegen, sich um mich sorgen? Auch Menschen in der Mitte des Lebens müssen erfahren, dass nicht mehr alles möglich und leistbar ist. Das Leben ist teuer, Wohnen ist für viele zum Luxus geworden, die Verschuldungen sind hoch. Viele Menschen ziehen sich zurück, Solidarität und Aufmerksamkeit schwinden, Ängste nehmen zu. Und außerdem: Wirkliche Armut ist nicht laut, meist schämt sie sich.
Gestern waren wir noch überzeugt, technisch, wirtschaftlich und moralisch die vorangegangenen Epochen überflügelt zu haben. Dann kam ein bis dahin unbekanntes Virus und belehrte uns eines Besseren. Die globalisierte Welt hat unsere Beschränktheit und Abhängigkeit aufgedeckt. Alles, was unsere moderne Gesellschaft in den letzten Jahren durchmachen musste, war in unserem Fortschrittsprogramm nicht vorgesehen. Wachstum, Beschleunigung, Sicherheit, Offenheit, Friede, Gesundheit, Wohlstand, vieles ist fraglich geworden. Der Krieg mitten in Europa, die Inflation, die Teuerung, der Ausverkauf der Ressourcen, die Ausbeutung der Erde, der Klimawandel – Probleme, Herausforderungen, die wir nicht leicht lösen können.
Die Suche nach Schuldigen hat Hochkonjunktur, die alten und neuen Verschwörungstheorien und Verdächtigungen nehmen zu, das Miss-trauen der Politik und den Institutionen gegenüber wird geschürt. Auch die Kirche bleibt davon nicht verschont. Die Wissenschaften sind suspekt, nicht wenige zimmern sich ihr eigenes Weltbild. Die Gesell-schaft ist weitgehend eine gekränkte und trotzige, die Welt eine aufgeriebene, aus den Fugen geraten. Die soziale Kommunikation hat unser Leben verändert, wir kommunizieren pausenlos und sind uns doch fremd. Wir sind mitteilungsbedürftig und verstehen einander doch nicht. Der Mensch ist durchschaubar geworden, zugleich schwindet die Ehrfurcht vor dem Menschen, er ist der Macher des Lebens. Gott als Urheber des Lebens wurde abgesetzt. Beziehungs-losigkeit, nicht Begegnung, scheint die neue Lebensformel zu sein.
Wurde das Gute begraben, der Mensch vergessen, Gott in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben?
Wir dürfen dem Leben nicht den Rücken kehren.
Vor 20 Jahren, 1962 wurde das II. Vatikanische Konzil eröffnet. Dieses war ein Durchbruch, vielleicht auch eine Überforderung für manche, die diesem „alten Apparat“, der „verstaubten und festgefahrenen Institution“ nichts mehr zugetraut hatten. Das Konzil hat die Welt überrascht. Papst Johannes XXIII., der „Übergangspapst“, hat das Ungeplante gewagt. Das Konzil hatte eine ansteckende Kraft, auch für viele Bereiche der Gesellschaft und des Lebens. Große Fragen wurden gestellt, die Begegnung mit der Moderne riskiert, das kirchliche Ghetto aufgebrochen. Ängste wurden abgebaut, Entfremdungen zwischen Kirche und Welt, zwischen Wissenschaften und Kirche, zwischen fest-gefahrener Tradition und lebendigem Erbe überwunden. Johannes XXIII. war Vermittler in der Kubakrise, Papst Paul VI. wurde zur Stimme zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Er war auch der um Verständnis ringende Dolmetsch des Konzils. Johannes Paul I. mit seinem kurzzeitigen Lächeln, Johannes Paul II. mit seinem politischen Weitblick, Benedikt XVI. mit seinem scharfen Intellekt und Franziskus mit seiner prophetischen Unbekümmertheit haben seither mit vielen Zustimmenden und Andersdenkenden die Herausforderungen des Konzils angenommen. Der synodale Weg möchte überzeugend und unter neuen Voraussetzungen am Konzil weiterarbeiten. Gerade unsere Diözese, eine Konzilsdiözese, darf sich vor dieser Arbeit nicht drücken. Bisher haben wir die Hausaufgaben des Konzils nur holprig gemacht. Vieles haben wir nur zögerlich geschultert, mit Strukturen und „heißen Eisen“ haben wir uns zu gerne beschäftigt. Die Begegnung über die Kirche hinaus wurde oft abgesagt. Nicht selten wurde die Kirche sogar zu einem Hindernis für die Begegnung mit Gott. Wir sind Meister des Selbstmitleides geworden und unterliegen sogar der Versuchung, eine Kirche ohne Gott zu bauen. Die Rede von Gott ist dürftig, viele sind Gott gegenüber gleichgültig. Ohne Begegnung mit ihm ist das Leben der Kirche arm, flach und beliebig.
Unser Umgang mit der Zukunft scheint verkorkst zu sein. Was dürfen wir hoffen, was wagen, wem dürfen wir trauen? Wie wird Leben morgen sein? Bin ich bereit, für die Zukunft zu investieren? Dazu braucht es keine Rezepte, sondern Experten, Fachleute der Begegnung. Wir können das Kommende nicht fixieren, wir können dazu beitragen, dass es gelingt. Es braucht Wärmestuben des Lebens. Wir dürfen nicht zuschauen, wie Menschen auf der Strecke bleiben, in Armut verrecken und am Leben erfrieren.
Als Kirche stehen wir vor großen Aufgaben, trotz aller Ermüdungs-erscheinungen und Verdächtigungen. Eine Welt ohne Gott ist nicht nur eine gottlose, sondern auch eine menschenunwürdige – das sagen nicht nur Theologen. Die Begegnung mit Gott macht uns erst fähig, dem Nächsten zu begegnen: auch den Armen, den Kranken, den Nachdenklichen, den Schützenswerten, den Fremden, den Ausgelachten, den Frierenden, allen, die draußen vor der Tür des Lebens kauern. Wir müssen Vagabunden zwischen Gott und den Menschen sein. Geschwisterlichkeit ist kein Modewort, sie ist ein Imperativ. Achtsamkeit, Ehrlichkeit, Respekt, Zuhören, Dialog, die Größe, uns selbst in Frage zu stellen, sind nur einige Grundvoraussetzungen, die zukunftsfit machen. Dankbarkeit macht das Leben reich, Solidarität und Aufmerksamkeit lassen den Menschen über sich hinauswachsen. Von der Kirche wird zu Recht erwartet, diesen Stil Gottes zu üben – das heißt Begegnung.
Ich bitte Sie, Begegnung zu wagen. Die Welt, die Menschen, die Gesellschaft, die Politik, die Kirche sind nicht so schlecht, wie wir manchmal meinen. Es gibt viele Gute und viel Gutes.
Der heilige Martin lässt uns nicht im Stich. Sollten wir nicht wie der heilige Martin Taten setzen und die Freude am Leben entschlüsseln? Ich lade Sie herzlich zur gemeinsamen Feier des Martinsfestes am Martinitag und am Vorabend in Eisenstadt ein und bitte Sie, sich an der Solidaritätsaktion „Fenster für Frierende“ im Winter unserer vom Krieg heimgesuchten Nachbarn in der Ukraine zu beteiligen.
Vergelt’s Gott für diese Martinstat!
Ich wünsche Ihnen viel Mut, Gelassenheit und Freude, vor allem den Segen Gottes für das, was kommt.
+ Ägdius
Bischof von Eisenstadt
Foto: Heinz Ebner