Nachtgebet "Zeugnis der Menschlichkeit"
Vor mehr als einem Jahr las ich von einem sensationellen Fund, einem Skizzenbuch mit feinfühligen Zeichnungen und pointierten Gedichten eines Jugendlichen aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Dieses war über acht Jahrzehnte verschollen, wurde 2024 wiederentdeckt und im Londoner Imperial War Museum ausgestellt. Es handelt sich um die Gedichte von Johann „Mongo“ Stojka. 13 Jahre war er alt, als er „diese Gedichte in der Hölle schrieb, während vor der Baracke bei jedem Buchstabenjemand vergast, verbrannt, erschlagen wurde. Das muss man sich einmal vorstellen.“ So im Original-Wortlaut sein Sohn Harri Stojka. Als ich ihn, Harri Stojka, kontaktierte, ihn den international renommierten Jazzmusiker und Giganten an der Gitarre, konnte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen, dass aus einem anfänglichen Betroffen-Sein ein derart berührendes Nachtgebet, das noch lange nachhallen wird, entstehen konnte. Erste Überraschung: Harri Stojka sagte sofort zu. Wir werden also ein historisches, ein persönliches, aber auch ein unglaublich tolles musikalisches Zeugnis der Menschlichkeit erfahren.
Planen ist das eine, mitmachen das andere und am schönsten war es für mich zu erleben, dass so viele Menschen sich berühren lassen von der Botschaft, dass Menschlichkeit zählt.
Am 10. April 2025 fanden sich mehr als 200 Menschen in der Pfarrkirche Lackenbach ein. Pfarrer Shinto begrüßte die Anwesenden. Seine offene Kirche, sein Seelsorger-Sein ermutigt mich immer wieder, weiter zu denken und Menschen zusammenzubringen. Wir starteten also gemeinsam, eine für mich bleibend tragende Erfahrung. Die lange Liste der zu Begrüßenden (siehe Ende des Berichts) verdeutlichte noch einmal, dass dies eine wirklich große „Sache“ für die Pfarrgemeinde Lackenbach, die Gemeinde Lackenbach, aber auch darüber hinaus für die Pädagogische Hochschule, die Bildungsdirektion Burgenland und die Diözese Eisenstadt ist.
Der Tag war bewusst gewählt, es war der Vorabend des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. In einer sehr persönlichen Ansprache erinnerte Harri Stojka an das Schicksal seines Vaters Johann. Als junger Roma wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald und später nach Auschwitz deportiert. Er überlebte den Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti:zze und Rom:nja, den Porajmos. Katharina Bauer, AlyseaNardai und Rafael Grill, drei Jugendliche, trugen diese Gedichte vor.
Harri Stojka sprach offenüber seine Kindheit und Familienerinnerungen, Feste voller Musik, die jedoch häufig in stille Trauer umschlugen. Die Erfahrung der Vergangenheit war stets präsent, auch wenn er als Kind das Wort „Vernichtungslager“ noch nicht begreifen konnte. Seine musikalische Laufbahn begann mit einer rosa Kindergitarre, die ihm sein Vater schenkte. Heute, so Stojka, wolle er niemanden mehr überzeugen: „Wenn die Menschen die Mauern in ihren Köpfen nicht selbst einreißen, kannst du sie nicht erreichen.“ Und dennoch setzt er mit seinem Kommen, seinem persönlichen Statement und seiner Musik ein starkes Zeichen – in der Hoffnung auf eine vorurteilsfreiere, empathische nächste Generation. „Ich baue auf die Jugend.“
Literarische Impulse kamen von Siegmund Kleinl, Germanist und Autor, der Auszüge, wie das „Klagenlied der Krisenseher“, aus seinem Buch „frei gehen - eine Exodus-Dichtung“ vortrug. Er verband die biblische Exodus-Erzählung mit Erfahrungen der Verfolgung im Nationalsozialismus und lud zur Auseinandersetzung mit den Themen Freiheit und Menschlichkeit ein. Zentral war seine Gleichung „Humanität ist Freiheit mal Verbindlichkeit“. Diese Botschaft trugen Leopold Novak, Rafael Grill und Katharina Bauer auf Holztafeln weiter zu den nächsten Stationen.
Bildungsdirektor Alfred Lehner und Rektorin der PPH Burgenland Sabine Weisz unterstrichen in ihren Ansprachen die Bedeutung von Bildung, Demokratie und Frieden als Grundpfeiler einer offenen Gesellschaft. Gedenkveranstaltungen wie diese seien essenziell, um einen reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit zu fördern – besonders im schulischen Kontext.
Nach dem Gebet in der Pfarrkirche zog ein stiller Lichterzug mit Kerzen und Sonnenblumen – als Symbole der Hoffnung und Erinnerung – durch den Ort.
Am Mahnmal für Rom:nja und Sinti:zze erinnerte Manuela Horvath, Leiterin der Romapastoral der Diözese Eisenstadt, an die während des Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Menschen.
Der Zug führte weiter zum jüdischen Friedhof. An der Grenze zwischen dem jüdischen Friedhof und dem angrenzenden Roma-Friedhof – zwei Orte, die nur aus religiösen Gründen durch einen dünnen Zaun getrennt sind, aber gleichermaßen Orte des Gedenkens darstellen – versammelten sich die Teilnehmenden. Johannes Reiss, ehemaliger Direktor des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt, sprach Worte des Gedenkens. Am Roma-Friedhof erinnert ein Denk- und Grabmal an die vielen tausend Sinti und Roma, die in verschiedene Konzentrationslager deportiert und dort ermordet wurden. Einige wenige Einzelgräber lassen die traurigen Schicksale einzelner Menschen erahnen. Der jüdische Friedhof in Lackenbach ist der, an der Anzahl der Grabsteine gemessen, größte jüdische Friedhof des Burgenlandes. Am 5. November 2025 wird Johannes Reiss in einer Folgeveranstaltung der PPH Burgenland den außerschulischen Lernort Jüdischer Friedhof Lackenbach mit weiteren Fakten und spannenden neuen Entdeckungen näher erläutern.
Den musikalischen Schlusspunkt setzten Harri Stojka und Claudius Jelinek mit Gitarrenklängen unter freiem Himmel – ein stilles, aber kraftvolles Zeichen für Frieden und Zusammenhalt. Pfarrer Shinto sprach Segensworte, die uns Kraft geben in einer Krisenzeit.
Dankgeschenke an alle Mitwirkenden waren Sonnenblumen und Brot.
Johann „Mongo“ Stojka hatte seine Gedichte nämlich gegen Brot für seinen Bruder eingetauscht. „Brot, das leben lässt“ ist unser heuriges Erstkommunionthema. Das gemeinsame Beisammensein im Gemeindesaal Lackenbach bot die Gelegenheit für Begegnung und Gespräch.
Das Land Burgenland sowie der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung förderte diese Veranstaltung.
Es war mir eine Ehre und Freude, das Nachtgebet zu konzipieren und in dieser wertschätzenden Atmosphäre mit allen Beteiligten zu realisieren. Gerne nenne ich die Kooperationspartner, derer sind es viele:
Die Katholische Aktion/Katholische Arbeiter:innenbewegung der Diözese Eisenstadt, die Katholische Frauenbewegung, die Katholische Männerbewegung, das Forum Katholische Erwachsenenbildung der Diözese Eisenstadtsowie der Verein Roma-Service und natürlich die Gemeinde und Pfarrgemeinde Lackenbach. An dieser Stelle möchte ich zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Bildungswesen nennen, die an der Veranstaltung teilnahmen und damit die Bedeutung des Nachtgebets unterstrichen. Unter den Gästen befanden sich unter anderem Landesrat Heinrich Dorner und Bürgermeister Christian Weninger. Seitens der PPH Burgenland waren neben Rektorin Sabine Weisz Vizerektor für Forschung und Hochschulentwicklung Herbert Gabriel, die Institutsleiterin für Ausbildung Martina Steinhauer-Goldnagel sowie der Institutsleiter für Religionspädagogik und transformative Bildung Harald Mandl vertreten. Vonseiten der Bildungsdirektion Burgenland nahmen neben Bildungsdirektor Alfred Lehnerdie Direktorin des Schulamtes und des Gymnasiums der Diözese, Andrea Berger-Gruber, sowie die Leiterin der Abteilung Minderheitenschulwesen und Vorsitzende des HKDC, Karin Vukman-Artner, an der Veranstaltung teil. Ebenfalls anwesend waren die Schulqualitätsmanagerin für den Bezirk Oberpullendorf, Christina Schlaffer sowie die Fachinspektor:innen für den katholischen Religionsunterricht Tatjana Steurer-Kiss, Katja Marth und Matthias Weber. Die Diözese Eisenstadt wurde durch Birgit Prochazka, Barbara Buchinger und Markus Iby repräsentiert.
Ich bin extrem dankbar über die vielen Menschen, die aus Lackenbach selbst oder aus anderen Teilen des Burgenlandes, anderen Bundesländern gekommen sind. Mein besonderer Dank gilt Pfarrer Shinto, Kuratorin Gerda Grill und Bürgermeister Christian Weninger und ihren Teams.
Mitwirkende, Organisator:innen, Teilnehmende erlebten gemeinsam einen berührenden Abend, ein eindrucksvolles Zeugnis gelebter Menschlichkeit. Alle trugen zum Gelingen des Abends bei. Es war ein gemeinsames Ringen, Be-Gehen, Erinnern, Hoffen, Bekennen und Beten.
Dass aus meiner Idee ein aufrichtiges Erleben werden konnte, verdankt sich der Tatsache, dass viele Menschen Sehnsucht haben, nicht nach einfachen Antworten, sondern in der Tiefe erkennen wollen, wie wir als Menschen gut und solidarisch miteinander leben können. Menschen stellten und stellen dies vielerorts unter den grausamsten Bedingungen unter Beweis.
Wir konnten ein Beispiel hören, UND wir können selber zu Zeuginnen und Zeugen der Menschlichkeit werden. Schweigen hilft nie. Die Frage nach dem Mensch-Sein und Mensch-Bleiben muss weiter gestellt und persönlich beantwortet werden.
Adele Grill